Nachverdichtung in Rüsselsheim: Feinsinnige Zitate in massiver Bauweise

Nachverdichtung in Rüsselsheim: Feinsinnige Zitate in massiver Bauweise

Realisierte Objekte

Nachverdichtung in Rüsselsheim: Feinsinnige Zitate in massiver Bauweise

Text: Peter Theissing | Foto (Header): © Sebastian Schels / KS-Original

In Rüsselsheim wurde ein traditionsreiches Wohnviertel behutsam nachverdichtet. Die mehrgeschossigen Gebäude greifen zahlreiche Details aus der Umgebung auf und erhalten zugleich ein sehr eigenständiges Erscheinungsbild.

Auszug aus:

In Rüsselsheim wurde ein traditionsreiches Wohnviertel behutsam nachverdichtet. Die mehrgeschossigen Gebäude greifen zahlreiche Details aus der Umgebung auf und erhalten zugleich ein sehr eigenständiges Erscheinungsbild.

Der Verna-Park in Rüsselsheim ist zentral zwischen Main und Innenstadt gelegen. Nachdem es sich zuvor im privaten Besitz der namensgebenden Familie befand, ist das Areal, angelegt im späten englischen Stil, seit 1911 öffentlich zugänglich und hat sich zu einer der beliebtesten Erholungsorte der Opel-Stadt entwickelt. So traditionsreich wie die Parkanlage präsentiert sich auch die südlich gelegene Wohnbebauung, die vorwiegend von zwei Typologien geprägt ist: Zunächst lassen sich noch klassische hessische Hofreiten entdecken. Oft giebelständisch errichtet, zeichnen sie sich durch ein zur Straße gerichtetes Wohngebäude aus, das zusammen mit schmalen Stallungen und dahinter liegenden Scheunen einen Innenhof ausbildet.

Ergänzt werden diese, vor allem in südlicher und östlicher Richtung, von zahlreichen Arbeiterhäuschen aus der Jahrhundertwende. Ursprünglich für Beschäftigte des nahegelegenen Opel-Werks gebaut, funktioniert ihr Aufbau ganz ähnlich, wobei sie in einem etwas kleineren Maßstab errichtet wurden, um der veränderten Nutzung – vom landwirtschaftlichen Betrieb zum Wohnhaus mit Möglichkeiten zur Selbstversorgung – Rechnung zu tragen. In diese kleinteilige, dicht bebaute Struktur hinein gesellt sich nun ein Ensemble mehrgeschossiger Wohngebäude. Entworfen von Baur & Latsch Architekten, greifen sie die vorhandenen Typologien auf und bereichern das Viertel zugleich um ein vollkommen neues Konzept, das vor allem dringend benötigte kleine Wohnungen zur Verfügung stellt.

1 | Der zweite Zugang zu den Wohnhäusern. Im Hintergrund ist auch das verputzte, freistehende Mehrfamilienhaus zu erkennen.
Bild: Sebastian Schels / KS-Original

2 | Im Zusammenspiel bilden die Gebäude Hofsituationen aus, die die Nähe zu den Nachbarn fördern. Die Holzgalerien verweisen auf die alten Höfe in der Nachbarschaft.
Bild: Sebastian Schels / KS-Original

Bestandsanalyse als Schlüssel zum Erfolg

Das junge Münchner Büro konnte sich mit seinem Entwurf in einem Realisierungswettbewerb durchsetzen, den die lokale Baugesellschaft gewobau für ein schmales, langes Grundstück sowie eine unweit an einer Kreuzung gelegene kleinere Fläche ausgeschrieben hatte. Für Martin Baur, einen der beiden Bürogründer, liegt der Grund für den Wettbewerbserfolg nicht zuletzt in der genauen Analyse des Bestands: „Wir haben geschaut, was es für räumliche Situationen und Qualitäten gibt, was funktioniert und heute noch funktionieren würde.“ Aus dieser Überlegung heraus entstanden auf dem größeren der beiden Grundstücke sechs maximal dreigeschossige Gebäude, die sich, hintereinander aufgereiht, durch den Wohnblock zu schlängeln scheinen. Die Abstände der Häuser zueinander sowie ihr Maßstab erzeugen dabei einen Hofcharakter, wie er auch in der Umgebung oft zu finden ist.

Doch auch die Gebäude selbst lassen sich als gelungenes, feinsinniges Zitat verstehen. Die roten Klinkerriemchen mit eingebrannter heller Schlämme sind an das Sichtmauerwerk einiger Nachbargebäude angelehnt. Die Idee für die hellgrünen Rolladen stammt von einer denkmalgeschützten Villa in der Nähe. Die Holzgalerien, die die Wohnungen um Außenflächen erweitern, erinnern an die Baustrukturen im Inneren der Hofreiten und auch die Rundbögen der Eingänge sind nicht ohne Vorbild. Jedes Mal, wenn sie in Vorbereitung auf den Wettbewerb mit der Bahn von München angereist sind, schauten die Architekten am Rüsselsheimer Bahnhof auf das Opel-Altwerk, wie Baur berichtet: „Dort gibt es diese großen Torbögen am Eingang, durch die früher die Arbeiterscharen eingezogen sind. Es ist ein wahnsinnig beeindruckendes und identitätsstiftendes Gebäude.“

Ein wenig anders verhält es sich mit dem siebten Gebäude, das ebenfalls Teil des Wettbewerbs war, aber etwas abseits an einer Kreuzung und damit gewissermaßen in „Insellage“ steht. Im Gegensatz zu den anderen Wohnhäusern des Projekts wurde dieses verputzt, wobei die mintgrüne Fassade klare Verwandtschaften erkennen lässt. „Als einzelnes Gebäude muss das Haus an der Waldstraße nicht so eine starke Identität erzeugen“, begründet der Architekt den Entwurfsprozess, gibt aber mit einem Schmunzeln zu: „Das hat es erst noch lernen müssen – am Anfang war es noch ein bisschen eitler.“

3 | In „Insellage “fügt sich das freistehende siebte Gebäude in die Umgebung ein, während der Bezug zu den restlichen Neubauten durch die Farbgebung erhalten bleibt.
Bild: Sebastian Schels / KS-Original

Wirtschaftlich, klimafreundlich, mit hohen Schutzwerten

Gemein ist allen sieben Neubauten das Mauerwerk aus Kalksandstein. Konkret fiel die Wahl auf das großformatige System KS-QUADRO, das nach dem Baukastenprinzip funktioniert. Basierend auf klar definierten Elementen im 12,5er-Raster, erlauben ein Regel- sowie zwei Ergänzungsformate zusammen mit Ergänzungssteinen ein rationelles Mauern und hohe Flexibilität auch bei kurzfristigen Änderungen. „Außerdem ist das Material sehr wirtschaftlich und besitzt dazu noch eine gute CO₂-Bilanz“, ergänzt Baur. Neben der daraus resultierenden Bezahlbarkeit des Wohnraums, hat die Materialwahl auch für die Mieter einen weiteren entscheidenden Vorteil. Denn durch seine hohe Rohdichte bietet der Kalksandstein einen sehr guten Schallschutz. Dieses Qualitätsmerkmal ist in einer Stadt wie Rüsselsheim von besonders hoher Bedeutung, liegt sie doch im direkten Einzugsgebiet des Frankfurter Flughafens.

4 | Halböffentliche und öffentliche Bereiche gehen fast nahtlos ineinander über.
Bild: Sebastian Schels / KS-Original

5 | Auch im Treppenhaus ist das Farbkonzept erlebbar, wobei – wie im Außenbereich – auf die geschickte Kombination kostensparender Standardlösungen zurückgegriffen wurde.
Bild: Sebastian Schels / KS-Original

Großer Bedarf an kleinem Wohnraum

Diese Vorzüge kommen nun vor allem Personengruppen zugute, die es bei der Wohnungssuche in der Stadt bislang besonders schwer hatten: Die Ein- und Zwei-Zimmer-Wohnungen in den Gebäuden sind vor allem auf Studierende und Pendler ausgerichtet, Drei-Zimmer-Wohnungen mit 80 m2 für Senioren und kleine Familien. Dazu kommt – im von Norden gesehen dritten Haus – eine 90 m2 große Wohnung, die sich vor allem an WGs richtet. Die Erdgeschosse der Häuser sind allesamt barrierefrei geplant, das größte Gebäude dank eines Aufzugs sogar über alle Geschosse.

Vorbilder jenseits des Ärmelkanals

Eine soziale Durchmischung und offene Strukturen waren Architekten und Bauherren bei dem Projekt gleichermaßen wichtig. Nicht zuletzt deshalb sind die Wege auf dem Gelände öffentlich nutzbar und erinnern mit ihren „ausgefransten“ Rändern an vielgenutzte Trampelpfade abseits offizieller Routen. Autos hingegen haben zwischen den Gebäuden keinen Platz – sie wurden in einem unterirdischen Parkhaus mit Straßenzugang untergebracht, um den recht hohen Stellplatz-Anforderungen der Automobil-geprägten Stadt gerecht zu werden.

Dieser Anspruch erklärt auch, warum Baur & Latsch Architekten die geistigen Vorbilder für das „Wohnen am Verna-Park“ in England sehen, auch wenn die Neubauten eher mediterrane Assoziationen auslösen, wie Martin Baur selbst zugibt. Er selbst nennt lieber Beispiele wie die Lillington Gardens von Darbourne & Darke oder Cressingham Gardens (Edward Hollamby) in London: Öffentlich geförderte Wohnraumprojekte aus den 1960er und -70er Jahren, die eine dichte, kleinteilige Bebauung mit hoher Lebensqualität und zahlreichen Grünflächen verbinden. Für Martin Baur liegt darin der Schlüssel für erfolgreiche Nachverdichtungen und das Bauen im innerstädtischen Raum. Dass er mit dieser Einschätzung nicht allein ist, beweisen Würdigungen wie die Joseph-Maria-Olbrich-Plakette des BDA Hessen in diesem Jahr sowie eine Auszeichnung beim Deutschen Architekturpreis 2021.

Der Autor


Peter Theissing
Geschäftsführer der KS-ORIGINAL GmbH
www.ks-original.de

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