Realisierte Objekte
Barrierefreies Wohnen in der Nähe von Tübingen: Prototyp-Projekt für’s Alter
Text: Achim Pilz | Foto (Header): © Achim Pilz
Das Wohnprojekt „Neschtle“ liegt am Rand einer Eigenheimsiedlung in Pfrondorf bei Tübingen. Es bietet acht barrierefreie oder rollstuhlgerechte Wohnungen und viele Gemeinschaftsbereiche. Es wurde errichtet, um angrenzenden Wohnraum frei zu machen – mit einer Miete, die 10 % unterhalb des Mietspiegels liegt.
Auszug aus:
QUARTIER
Ausgabe 5.2025
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Ende 2023 hatte die iba27 Stadtregion Stuttgart zum Thema „Gemeinschaftliche Wohnprojekte – Vorbilder auf dem Weg aus der Wohnungskrise?“ [1] eine Podiumsdiskussion veranstaltet. Eingeladen war auch Gunnar Laufer-Stark, Gründer der nestbau AG – Bürger-Aktiengesellschaft für Wohnungsbau. 2010 hatte er die nestbau AG als Gemeinwohlorientierte Aktiengesellschaft im Immobilienbereich gegründet – n.e.s.t. steht für nachhaltig, ethisch, sicher, transparent. Die AG hat heute etwa 500 Aktionäre und 5,6 Mio. Euro Eigenkapital. Damit betreibt sie fünf Immobilien mit drei Pflege-WGs und zwei Inklusions- Wohngruppen. Insgesamt vermietet sie gut 4.400 m² Fläche. In ihrer Satzung ist Gemeinwohl- Orientierung vorgeschrieben, was u. a. heißt, dass auch der Vorstand der AG nicht mehr als das Dreifache bekommt, wie der Geringstverdienende (auf eine Vollzeitstelle gerechnet). Und Rechtsanwalt Laufer-Stark hat auch dafür gesorgt, dass das so bleibt. Eine der AG-Klauseln ist, dass niemand mehr als 5 % der Stimmrechte ausüben darf, selbst wenn er mehr Aktien hätte. „Das verhindert zuverlässig feindliche Übernahmen. Niemand kauft Anteile, mit denen er nicht abstimmen darf“, erklärt er. Im Sommer 2025 wurde das jüngste Projekt der nest AG eröffnet – das „Neschtle“, welches das aktuelle Problem adressiert, dass alte Menschen zu viel Wohnraum haben, den sie teilweise nicht einmal nutzen. Über 65-Jährige haben in Deutschland die meiste Wohnfläche (s. Abb. 1), gibt das Statistische Bundesamt 2025 an. 27 % der Alleinlebenden unter ihnen wohnten 2022 sogar auf je mindestens 100 m2. In Eigentümerhaushalten hat diese Altersgruppe sogar noch ca. 20 m² mehr Wohnfläche als in Miethaushalten. Und der demografische Wandel wird das noch verschlimmern. Die ARD interviewte zukünftige Bewohner des „Neschtle“ in ihrer Dokumentation: „Die Alten nehmen den Jungen den Wohnraum weg“ [2].
Prof. Tim Rieniets von der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover rät, Bestand so gut es geht zu mobilisieren. Kommunalberater Stefan Flaig etwa fordert, das Zweckentfremdungsverbot, das auch für Leerstand gilt, rigoros anzuwenden. Die Stadt Landau (47.000 Einwohner) beispielsweise übt schon sanften Druck auf Besitzer aus, ihren Leerstand nutzbar zu machen, und denkt über eine Leerstandssteuer nach [3]. Mit dem Neschtle ist die nestbau AG proaktiv, dockt an eine bestehende Eigenheimsiedlung an und schafft dort barrierefreien bzw. behindertengerechten Wohnraum, um Platz für junge Familien freizumachen.
„Wir müssen vorhandene Flächen aktivieren“, betont Laufer- Stark und spitzt zu: „Neubau unbeschränkt geht nicht.“ Mit dem Projekt macht er je neu gebautem m2 fast zwei im Bestand frei. Wer will, erhält Hilfe beim Vermieten oder Verkaufen seiner Bestandsimmobilie, etwa durch Vermittlung von Anwälten oder Beratung zu Bau-, Schenkungs- oder Erbrecht. Laufer-Stark sieht das Neschtle als Prototyp, einen sehr häufigen Bautypus zu ergänzen: „Diese Eigenheimsiedlung gibt es tausendmal, alleine in Baden- Württemberg.“ Im Vorfeld führten Studierende des Karlsruher Instituts für Technik eine Bedarfsanalyse vor Ort durch [4]. Sie fragten in Pfrondorf, unter welchen Umständen Eigentümer ihr zu groß gewordenes Haus verlassen würden und was vorliegen müsste. „Das Wichtigste für die Leute ist, dass sie weiter dort spazieren gehen können und die Nachbarn treffen, wo sie seit 40 bis 50 Jahren leben“, fasst es Laufer-Stark zusammen. In der Folge kamen Interessenten vor Ort zu zwei Tagen der offenen Tür, sahen sich den Rohbau an und nahmen Pläne mit. Letzten Endes kamen die Mieter aus anderen Gegenden. Nur eine von ihnen arbeitet noch. Im Neschtle wohnen sie auf 414 m². Frei gemacht haben sie fast 760 m². Nur ein Bewohner hat seine Wohnfläche etwas vergrößert. Aber das war kein Ausschlusskriterium. „Es ist schon auch ein Gemeinschaftsprojekt“, betont Laufer-Stark.
Naturnahe Lage und Infrastruktur
Der 1.400 m² große Bauplatz liegt am Rande der Eigenheimsiedlung innerhalb eines Gewerbegebiets. Nachbarn sind ein Bürogebäude und eine Firma, die mit Leder und Pelzen handelt. Die Lage ist ideal für Menschen, die Natur lieben. Pfrondorf ist umgeben von Feldern. In allen Himmelsrichtungen gibt es spätestens in 1 km Entfernung Wald. Nördlich schließt der Naturpark Schönbuch an, malerisch bewaldet, mit artenreicher Fauna und Wanderwegen. Weit bekannt als Wanderziel ist das Kloster Bebenhausen. In Pfrondorf gibt es einen Hausarzt, einen genossenschaftlich organisierten Dorfladen, einen Friseur, einen Bäcker, ein Café und mehrere Restaurants. Das Grundstück war schon bebaut, sodass für den Ersatzbau nur noch die halbe Baugrube ausgehoben werden musste. Drei Viertel des Gebäudes liegen nach einer Ausnahmegenehmigung ca. 1 m über der Baulinie. Das erste Viertel springt auf die Höhe des Nachbarn zurück, sodass dieser gut besonnt wird. GRZ ist 0,18. Vier der sieben Stellplätze sollen nicht versiegelt werden. Auch eine Unterstellmöglichkeit für Fahrräder wird noch geschaffen.
Das von buerohauser (Berlin/ Altensteig) geplante Gebäude mit insgesamt 480 m² Grundfläche und 240 m² Keller bietet sieben vollständig barrierefreie Mietwohnungen zwischen 41 und 73 m² und große Gemeinschaftsbereiche. Die mit 18 m² kleinste Wohnung war für eine Pflegekraft oder für eine Vermietung nach dem Modell „Wohnen gegen Hilfe“ gedacht. Auch sie wird aktuell regulär bewohnt, wobei der Mieter auch den Gemeinschaftsraum nutzt. Vier der Wohnungen sind sozial gebunden. Erschlossen sind die Einheiten über einen vorgelagerten, vor Witterung und Sonne geschützten Laubengang. Im Erdgeschoss haben die Wohnungen zum Garten 3 m tiefe Terrassen, im Geschoss darüber 1,6 m tiefe, überdachte Balkone mit gut 7 m² Fläche. Alle Einheiten verfügen über Lagerräume im Keller mit einer Fläche von ca. 5 m². „Die Leute, die sich verkleinern, goutieren es, Kellerräume zu haben“, weiß Laufer-Stark. Die nicht sozialgebundenen Mieten liegen mit Werten zwischen 14 und 16 €/m² 10 % unter dem Mietspiegel. Die vier sozial gebundenen Wohnungen sind noch einmal 33 % günstiger.
Für die Zielgruppe Rentner wurde das Gebäude umfassend auf Barrierefreiheit ausgelegt. Der ebenerdige Eingang und Aufzug ermöglichen einen stufenlosen Zugang. Drei Einheiten und der Gemeinschaftsbereich im Erdgeschoss sind gemäß DIN 18040-2R mit rollstuhlgerechten Bewegungsflächen sowie unterfahrbaren Waschbecken ausgestattet. Vier weitere Wohnungen sind allgemein barrierefrei nach DIN 18040-2, weil die Toiletten dort nur von einer Seite mit dem Rollstuhl angefahren werden können. Alle Bäder verfügen über schwellenlose Duschen und sind mit Stützklappgriffen für eine barrierefreie bzw. rollstuhlgerechte Nutzung ausgestattet. Selbst die Kellerräume sind teilweise rollstuhlgerecht.
Zum Grundsatz des Projekts gehört auch das Soziale mit vielfältig nutzbaren Gemeinschaftseinrichtungen: Werkstatt, Atelier und Gemeinschaftsraum mit fast 29 m², behindertengerechtem Bad und Gartenzugang. Neben Tisch, Bank und Stühlen hat der Gemeinschaftsraum eine große Küche mitsamt einer Kochinsel. Werkstatt und Atelier mit je etwa 32 m² liegen zwar im Keller, haben aber ausreichend Tageslicht und Sichtbezug zur Natur. Die Aneignung der Freiräume mit Bank, Stühlen, Kissen und Blumenkübeln ist kurz nach Bezug schon in vollem Gange. Die Mieterinnen und Mieter sitzen im Sommer auf der schattigen Nordseite unter dem Laubengang und unterhalten sich. Auch der Garten ist Gemeinschaftsbereich. Er wird noch gemeinschaftlich gestaltet. Laufer-Stark hat mit der Planung eigens gewartet, bis alle eingezogen sind. Angedacht sind Hochbeete zum Gärtnern, ein Platz, beschattet von Bäumen und eine Retentionsfläche.
Untergeschoss, Balkone und Laubengang wurden in massiver Bauweise aus Stahlbeton oder Mauerwerk realisiert. Der Hauptbaukörper wurde in modularer Holzbauweise errichtet. Für das Tragwerk kamen vorgefertigte Wand- und Deckenelemente aus Brettsperrholz aus nachhaltiger regionaler Forstwirtschaft im Schwarzwald zum Einsatz. Selbst der Aufzugsschacht besteht aus den vorgefertigten Vollholzelementen. In den mit Vollholzküchen ausgestatteten Wohnungen sind die Holzoberflächen weiß lasiert und sichtbar. Insgesamt wirken die Aufenthaltsbereiche durch die Verblendung des Geländers mit glänzendem Blech kühler.
Das Energiekonzept setzt auf regenerative Quellen und strebt Energieautonomie an: Auf dem Dach ist eine Solarthermie Anlage mit einer Kollektorfläche von gut 80 m² installiert. Die 40 kW der Sonne werden in 1.600 l fassenden Schichtspeichern gelagert. Die Thermie soll ca. 70 % der Energie zum Heizen und für das Warmwasser erzeugen. Auf dem Dach gibt es noch etwas Platz und Leerrohre für Photovoltaik. Aktuell wird die gesamte restliche Wärme über einen Holzkessel zur Verfügung gestellt. Das Holz kommt aus dem nahen Schönbuch. Geheizt wird über eine Fußbodenheizung. So ist das Neschtle ein engagiertes Projekt, welches das häufige Problem des Leerstands und der übergroßen Räume für Alte adressiert und mit großem sozialen Engagement realisiert hat. Auch wenn aus der angrenzenden Eigenheimsiedlung niemand einzog, so ist doch jetzt ein Prototyp entstanden, mit dem das leichter vorstellbar und umsetzbar ist.
Quellen/Literatur
(alle angesehen am 25.07.2025)
[1] https://www.iba27.de/gemeinschaftlichewohnprojekte-vorbilder-auf-dem-weg-aus-derwohnungskrise
[2] https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdC9GMjAyNFdPMDEyOTE5QTA
[3] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/immobilien-wohnungen-leerstand-100.html
[4] https://open.arch.kit.edu/ausstellungen/haustausch-innovative-wohnkonzepte-fuerdie-generation-gold
Der Autor
Achim Pilz
Dipl.-Ing. Architektur Achim Pilz publiziert seit 2002 über nachhaltiges Bauen und baubiologischen Städtebau. Er ist freier Fachjournalist, Dozent „baubiologische Stadtlandschaften“, Buchautor, Baubiologe IBN und Chefredakteur von „baubiologie-magazin.de“. Er studierte an den Universitäten Wien, Aachen, Stuttgart und arbeitete in deutschen und indischen Planungsbüros.
www.bau-satz.net