Im Gespräch mit Marcel Özer: Cradle to Cradle

Im Gespräch mit Marcel Özer: Cradle to Cradle

Im Gespräch mit Marcel Özer

Cradle to Cradle

Text: Julia Ciriacy-Wantrup | Illustration (Header): © KADAWITTFELDARCHITEKTUR

Foto: EPEA GMBH

Die Bau- und Immobilienbranche gilt als größter Verbraucher der weltweiten Ressourcen und Verursacher von Abfallmengen. Die zunehmende Bautätigkeit, die wachsende Industrialisierung und die rasante Verstädterung benötigt Unmengen an Sand, Zement, Eisen, Stahl und andere Baumaterialien. Marcel Özer, Projektpartner und Teamleiter Cradle to Cradle Real Estate bei der EPEA GmbH – Part of Drees & Sommer, erklärt die verschiedenen Einsatzfelder von Cradle to Cradle® zur Wiederverwertung von Materialien.

Auszug aus:

Viele Experten und Fachverbände sind davon überzeugt, dass für eine Ressourcenschonung und den Klimaschutz kein Weg an der Kreislaufwirtschaft vorbeiführt. Welches Prinzip verfolgt der Ansatz des „Cradle to Cradle“?

Die Idee des Cradle to Cradle-Designprinzips, kurz C2C, ist, Produkte, Prozesse und Gebäude so zu gestalten, dass sie gesund für den Menschen und sicher für die Umwelt sind. Das Konzept wurde in den 1990er-Jahren von dem Chemiker Prof. Dr. Michael Braungart und dem Architekten William McDonough entwickelt. Übersetzt heißt es „Von der Wiege zur Wiege“ und beschreibt die potenziell unendliche Zirkulation von Materialien und Nährstoffen in Kreisläufen. Im biologischen Kreislauf zirkulieren Verbrauchsgüter, wie z. B. Naturfasern, Reinigungsmittel oder biologisch abbaubare Verpackungen, die nach ihrem Gebrauch sicher in diesen zurückgeführt werden können. Im technischen Kreislauf zirkulieren wiederum Gebrauchsgüter, wie beispielsweise Elektronikartikel oder Fußböden. Dabei bleibt ihre stoffliche Güte erhalten, ein Downcycling mit Qualitätsverlust wird vermieden. Damit Produkte und Materialien den Cradle to Cradle-Kriterien entsprechen und kreislauffähig sind, müssen sie bereits im Design- und im Herstellungsprozess so gestaltet werden, dass alle Inhaltsstoffe chemisch unbedenklich, sortenrein trennbar und demontierbar sind. Nur dann können sie ohne Bedenken in den jeweiligen Kreislauf zurückgeführt werden.

Welcher Mehrwert ergibt sich für die Baubranche?

Da die Baubranche mit bis zu 50 % am europäischen Ressourcenverbrauch beteiligt ist und sogar gut 60 % der Abfälle verursacht, ist Cradle to Cradle hier besonders sinnvoll. Durch die Zirkulation der Rohstoffe in kontinuierlichen Kreisläufen und positive Definition der Produkte, wie C2C es vorsieht, können wir der Rohstoffverknappung und dem Klimawandel entgegenwirken. Wenn in der Zukunft Materialien sortenrein getrennt und ohne Qualitätsverlust wiederverwendet werden, sind Immobilien zudem nicht nur nachhaltig. Angesichts steigender Rohstoffpreise sind sie sogar wahre Rohstofflager mit großem Wertsteigerungspotenzial. Das für die Baustoffe gebundene Kapital geht nämlich nicht verloren, sondern wird ähnlich einer mittel- bis langfristigen Wertanlage wieder freigegeben. Der Eigentümer der eingesetzten Produkte oder der Gebäude profitiert von künftigen Rohstoffpreisentwicklungen – ohne in deren Lagerung investieren zu müssen. Bei heutigen Materialkosten von über 20 % der Baukosten ergibt sich durch das C2C-Designprinzip eine Wertsteigerung von bis zu 20 %. Darüber hinaus lassen sich die Instandsetzungs‑, Rückbau- und Entsorgungskosten auf ein Minimum reduzieren. So entstehen Gebäude und Städte, die nicht nur sicher für den Menschen und gesund für die Umwelt sind, sondern auch erfolgreich für das Business.

Welche Chancen bietet die technische Gebäudeausrüstung für die Umsetzung von Cradle to Cradle?

In der Baubranche kommen bereits heute zahlreiche Cradle to Cradle-zertifizierte Produkte zum Einsatz. Dazu gehören u. a. Fassadenelemente, Dämmungen, Teppiche, Möbel oder andere Baustoffe, die chemisch unbedenklich sind und sich in gleichbleibender Qualität wiederverwerten lassen. Neben der Gebäudehülle und dem Innenraum besteht aber auch im Bereich der technischen Gebäudeausrüstung großes Potenzial für die Anwendung der C2C-Prinzipien. So können hier zum Beispiel viele monomaterielle Produkte eingesetzt werden. Komplexe Komponenten bestehen zwar aus vielen verschiedenen Stoffen und Bauteilen, grundsätzlich ist deren sortenreine Trennung aber in den meisten Fällen möglich. Zudem besteht die gesamte Technik im Gebäude aus vielen Einzelbauteilen, welche häufig mit lösbaren oder zumindest leicht trennbaren Verbindungen zusammengefügt sind. Im Vergleich zu vielen anderen Gewerken am Bau bietet dies im Hinblick auf die C2C-Prinzipien einen wesentlichen Vorteil.

Wie verbreitet ist die Nutzung von Cradle to Cradle-Produkten im TGA-Bereich?

Die Anzahl der Cradle to Cradle-Bauprodukte für den TGA-Bereich ist noch gering. Hinzu kommt, dass die Forderung von Bauherren und Projektentwicklern zum Einsatz von nachhaltigen, nur demontierbaren oder gar C2C-zertifizierten Produkten im TGA-Bereich noch nicht stark ausgeprägt ist. Viele Anstrengungen konzentrieren sich weiterhin auf das Energiesparen. Umso wichtiger ist es, dass die Fachplaner der technischen Gebäudeausrüstung ein Bewusstsein für kreislauffähiges Bauen mitbringen und dieses Thema als Planungsaufgabe verstehen. Daneben gilt es für den Planer, bereits in der Konzeptphase einen Fokus auf die Wandelbarkeit der Immobilie und den Lebenszyklus der technischen Ausrüstung zu legen. Die Wahl der richtigen Fügetechnik und Systemaufbauten sind weitere Themen, welche der Fachplaner im weiteren Planungsprozess berücksichtigen und verfolgen muss.

Das Cradle to Cradle-Designprinzip steht für eine potenziell unendliche Zirkulation von Materialien und Nährstoffen in Kreisläufen.
Grafik: EPEA GMBH – PART OF DREES & SOMMER

Mit The Cradle entsteht im Düsseldorfer Medienhafen bis 2022 ein nach Cradle to Cradle-Prinzipien konzipiertes Holzhybrid-Gebäude.
Grafik: INTERBODEN_BLOOMIMAGES/EPEA GMBH

Welche Vorteile bieten industriell vorgefertigte Bauteile oder die Kombination von Cradle to Cradle mit BIM?

Der Einsatz von industriell vorgefertigten, modularisierten Bauteilen bietet Chancen, die technische Gebäudeausrüstung vollkommen neu zu betrachten. Eine dieser Möglichkeiten ist das Product as a service-Modell, bei dem nicht Produkte selbst wie z. B. eine Lampe, sondern ihre Leistungen, also das Licht, für einen bestimmten Zeitraum erworben werden. Da im TGA-Bereich Verteilsysteme und Bauteile zum Zeitpunkt der Gebäudeumnutzung oder des Rückbaus oft das Ende ihrer Lebensdauer noch nicht erreicht haben, können sie so einzeln oder als ein komplettes System in anderen Bauvorhaben wiederverwendet werden. Die leichte Demontierbarkeit und Trennbarkeit dieser Produkte entsprechen auch dem C2C-Gedanken. Im neuen Bürogebäude OWP 12 am Firmensitz von Drees & Sommer in Stuttgart wird dieses Zukunftsthema im Bauwesen gemeinsam mit der Firma Würth bereits angewandt. Auch die Verknüpfung von C2C und Building Information Modeling, kurz BIM, bringt viele Vorteile mit sich. Alle Informationen zu verbauten Materialien und ihrer Kreislauffähigkeit werden dabei im sog. Building Circularity Passport, also einem Gebäude-Materialpass, elektronisch dokumentiert. Dieser lässt sich einfach in das BIM-System integrieren oder auch direkt aus dem BIM-Modell erstellen. Das hilft den Vertretern der Architekturbüros sämtlicher Planungsdisziplinen sowie ausführender Firmen, die Anforderungen an die Nachhaltigkeit und die Kreislauffähigkeit des Gebäudes besser zu verstehen und gemeinsam umzusetzen. Aktuell kommt dieser Methodenmix in den  Projekten The Cradle in Düsseldorf und OWP 12 in Stuttgart zum Einsatz.

Welche Rolle spielt Cradle to Cradle im Bereich des Wohnungsbaus?

Wir verbringen über 90 % unserer Lebenszeit in Gebäuden – und einen Großteil davon in unseren Häusern und Wohnungen. Da ist es erstaunlich, wie wenig wir über die Materialien in Innenräumen wissen. Denn diese können Schadstoffe enthalten, welche die Gesundheit und das Wohlbefinden maßgeblich beeinträchtigen. Die bauökologische Materialwahl im Sinne von C2C geht weit über die gesetzlichen Standards hinaus und sorgt für ein sicheres und gesundes Raumklima. Wie wichtig gerade diese Aspekte sind, zeigt uns die aktuelle Coronakrise mehr als deutlich. Daher wird Cradle to Cradle auch im Bereich des Wohnungsbaus in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen.

Ein C2C-Pilotprojekt im Wohnbaubereich wird bereits von der Landmarken AG realisiert. Unter dem Namen „Moringa“ entsteht dabei in der Hamburger HafenCity das erste Cradle to Cradle-Wohngebäude Deutschlands und das gesündeste Hochhaus der Stadt. Mindestens 50 % des Gebäudes sollen aus kreislauffähigen Materialien bestehen. Auch alle anderen Bauprodukte werden auf ihre Nachhaltigkeit und Wirkung auf die Gesundheit und die Umwelt geprüft und optimiert. Zudem sind am und auf dem Gebäude so viele Grünflächen vorgesehen, wie durch die Immobilie bebaut werden. Diese sorgen für eine saubere Luft und verwandeln das Gebäude in eine grüne Oase.

Blicken wir in die Zukunft: Wie wird sich Cradle to Cradle in den nächsten zehn bis 20 Jahren entwickeln?

Dass kreislauffähig zu bauen bereits heute möglich ist, beweist die Vielzahl der bereits umgesetzten und laufenden Projekte. Dabei handelt es sich nicht um anspruchsvolle Forschungsvorhaben oder kleine Einfamilienhäuser, sondern um große Projekte wie das n eue Verwaltungsgebäude der RAG AG in Essen, das Rathaus in Venlo oder das neue Bürogebäude The Cradle in Düsseldorf. Sie wurden nach dem Cradle to Cradle-Designprinzip und unter ganz normalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entwickelt und umgesetzt. Die Integration der Circular Economy-Elemente in das Bewertungssystem der DGNB Version 2018 unterstützt diesen Trend zusätzlich. Als Innovationstreiber arbeiten Drees & Sommer und die EPEA GmbH schon seit einigen Jahren an C2C-Projekten. Auf Basis der bisher gewonnenen Erkenntnisse und der Erfahrungswerte aus dem Green Building-Markt der vergangenen 15 Jahre gehen wir davon aus, dass der Marktanteil von C2C-inspirierten Gebäuden in 2030 mehr als 50 % betragen wird.

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